Innsbruck (Österreich), 3. Dezember 2015
Wenn die Einstiegsmotorisierung ein V6-Diesel mit drei Liter Hubraum, 258 PS und 620 Newtonmeter ist, dann handelt es sich entweder um ein Fahrzeug, das nicht vorrangig für den europäischen Markt konzipiert wurde – oder einfach um einen gewaltigen Auto-Brocken. Der Mercedes GLS ist beides. Wie sich der am schwächsten motorisierte Full-Size-SUV-Benz nach dem Lifting fährt? Wir haben ihn nicht nur aufs 2.474 Meter hohe Timmelsjoch zwischen Österreich und Italien getrieben.
Jedes Quartal ein neues SUV
“Raum und Volumen sind durch nichts zu ersetzen”, das weiß auch Andreas Zygan, Leiter der SUV-Entwicklung bei Mercedes. Zygan hatte viel zu tun im Jahr 2015, denn die Marke mit dem Stern hat im Schnitt jedes Quartal ein neues SUV-Modell auf den Markt gebracht. Und dann war da auch noch was mit einer neuen Nomenklatur: Aus dem GLK wurde der GLC, der ML ist zum GLE geliftet und umgetauft worden, man schob das GLE Coupé als BMW-X6-Gegner nach und jetzt zum Jahresabschluss wird bei der letzten Überarbeitung in 2015 aus dem GL der GLS, sozusagen “die S-Klasse unter den SUVs.”
Wenig Kosmetik und die Rückkehr des “d”
Neben dem neuen Schriftzug am Heck des GLS 350 d (ja, das “d” für Diesel ist auch zurück und ersetzt die etwas kryptische “Bluetec”-Bezeichnung) blieben die optischen Neuerungen eher verhalten: Kosmetik gab es für die Heckschürze und die Rückleuchten. An der Front steht der Grill jetzt steiler im Wind und auch hier wurden die Schürze und die Lichter aufgefrischt. An den Abmessungen ändert sich fast nichts. Höhe, Breite und Radstand blieben identisch (1.850, 1.934 und 3.075 Millimeter). In der Länge legte der GLS 10 Millimeter auf insgesamt 5.130 Millimeter zu. Schwer war der GLS auch schon, als er noch GL hieß: Es blieb bei 2.455 Kilogramm, verteilt auf 18,4 Kubikmeter Auto.
In der Stadt ein Fremdkörper
Wir machen uns auf den Weg nach Hochgurgl und das Timmelsjoch. Vom Flughafen Innsbruck geht es zuerst durch den moderaten Stadtverkehr der Alpenmetropole. Hier ist der GLS wie ein Volvo XC90, ein Audi Q7 oder ein deutlich kürzerer BMW X5: einfach eine Nummer zu groß. Ja, eigentlich sogar zwei Nummern im Vergleich zu den Konkurrenten. Klar, man sitzt schön hoch und hat einen guten Überblick über die gewaltige Motorhaube und das Verkehrsgeschehen eine Etage tiefer, aber bei der Vorstellung, diesen Full-Size-Koloss auf einem engen Supermarktparkplatz zu rangieren, wird uns ganz schwindelig. Die 360-Grad-Kamera und der aktive Parkassistent mögen hier Abhilfe versprechen, aber wenn ein Auto physisch nicht in eine Parklücke passt, dann kann auch die tollste Technik nicht mehr weiterhelfen.
Herrschaftlichkeit und Ruhe auf der Autobahn
Dann ist sie endlich da: die Autobahnauffahrt. Das Gaspedal wandert aufs Bodenblech und in kürzester Zeit (in 7,8 Sekunden gehts von null auf 100 km/h) haben uns die 258 PS und die 620 Newtonmeter auf Autobahntempo beschleunigt. Wir ordnen uns bei 110 km/h in den fließenden Verkehr ein und genießen die Herrschaftlichkeit der alles schluckenden Luftfederung bei einem leichten und sehr angenehmen sonoren Brummen im Innenraum. Die höchste Fahrstufe der Neungang-Automatik ist mittlerweile auch eingelegt und wir gleiten mit dem Autobahnelefanten bei knapp 2.000 Kurbelwellenumdrehungen pro Minute in Richtung der Ausfahrt Hochgurgl.
Barocke Anmutung im Innenraum
Doch noch haben wir etwas Zeit, den Blick durch das Interieur wandern zu lassen: Das Design gefällt, auch wenn es zusammen mit den offenporigen Holzelementen ein wenig an die barocke Inneneinrichtung der Gemächer von Sissi erinnert. Neu sind das Dreispeichen-Lenkrad mit Schaltwippen und das teilintegrierte Achtzoll-Infotainment-Display. Der neue Audi Q7 ist gegenüber dem GLS deutlich weniger verspielt und besser strukturiert. Auch der XC90 findet eine klarere Linie. Wer aber S-Klasse-Komfort-Feeling haben will, sollte GLS fahren.
Sehr agil für ein Full-Size-SUV
Die Ausfahrt ist da und wir schalten aus dem Comfort- in den Sport-Modus. Ja, auch ein knapp 2,5 Tonnen schwerer Geländewagen braucht heutzutage ein solches Fahrprogramm. Angepasst werden hier die Standard-Parameter: Lenkung, Gasannahme, Getriebe und Dämpfung. Alles wird einen Tick straffer und wir platzen schier vor Aufregung, was wohl passieren wird, wenn ein so gewaltiger Brocken auf Alpental-Straßen und enge Spitzkehren trifft. Der GLS ist hier nicht gerade handlich, aber für ein Full-Size-SUV mit sieben bequemen Sitzplätzen (ja, auch die dritte Reihe ist wirklich annehmbar), einem Kofferraumvolumen von bis zu 2.300 Liter und einem zulässigen Gesamtgewicht von 3.250 Kilogramm trotzdem unglaublich agil.
Die Bergpassziege im XXL-Format
Der GLS hat Bergpassziegen-Charakter und man vergisst schnell, wie viel Masse sich hier gerade fast mühelos von Kurve zu Kurve schmeißen lässt. Okay, ein BMW X5 ist noch einmal eine gute Schippe williger bei der Sache. Ein Audi Q7 oder ein Volvo XC90 ziehen bei schnellen Lastwechseln und schlagartigen Richtungswechseln aber mit Abstand den Kürzeren.
Sicher auf Eis und Schnee. Vielleicht zu sicher?
Wir erreichen die Mautstation, die die letzten Kilometer der Passhöhe ankündigt. Ab hier sind die Straßen nicht mehr geräumt und eine Mischung aus Schnee und Eis verdrängt den griffigen Asphalt. Über Funk wird uns von Mercedes empfohlen, den Glätte-Modus anzuwählen – na dann machen wir das mal. Ab jetzt sind wir anscheinend im Safety-First-Programm unterwegs. Die Gasannahme wird massiv eingeschränkt und in Kurven ist nicht viel mehr drin als Kriechgeschwindigkeit. “Eine Gelände- und Glätte-Fahrt für Idioten” wird in den Raum geworfen und dem Benz wird ein “zu frühes, zu drastisches elektrisches Eingreifen” ins Allradsystem vorgeworfen, aber Sicherheit geht vor. Gut so, denn wir wollen nur ungern die 100-Prozent-Gefälle-Abkürzung nach Sölden nehmen. Da hilft dann weder 4Matic noch ein Glätte-Programm, dann regiert die Physik.
Offroad-Fähigkeiten sind vorhanden. Doch wer setzt sie ein?
Für schwierigeres Gelände gibt es übrigens noch weitere typische Offroad-Gimmicks: Eine Mitteldifferenzialsperre sowie eine Geländeuntersetzung sind mit an Bord. Letztere wäre wohl auch zu empfehlen, wenn man einen 3,5-Tonnen-Anhänger auf das Joch ziehen möchte. Wer allerdings mit einem mindestens 74.792 Euro teuren SUV mit serienmäßigen 18-Zoll-Felgen (optional sind sogar 21-Zöller drin) freiwillig in schweres Gelände fährt, bleibt offen.
Hat der GLS in Europa eine Chance?
Am Ende stellt sich jedoch eine grundsätzliche Frage: Hat der GLS – trotz seiner Größe – überhaupt eine Chance auf dem europäischen Markt? Auf einem Markt, wo man bereits für ein Kompakt-SUV als Umweltverschmutzer geächtet wird? Wenn man hier brav den gefahrenen Diesel wählt, hat man mit einem angegebenen Durchschnittsverbrauch von 7,1 Liter auf 100 Kilometer zumindest ein gutes Argument für den GLS in der Hand. Die drei Benziner-Derivate GLS 400, GLS 500 oder der völlig wahnsinnige Mercedes-AMG GLS 63 mit 585-V8-PS aus 5,5 Liter Hubraum werden hier wohl eine Seltenheit bleiben. Sie gehören in die USA, wo das Benzin günstig und der Diesel verpönt ist und der GLS seit Jahren unangefochtener Marktführer in seinem Segment ist. Ab März 2016 werden wir es wissen, wie es in Europa läuft, denn dann findet die Markteinführung des Facelifts statt.
(ml)
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