Vitoria-Gasteiz (Spanien), 4. Mai 2015
Alles auf Anfang: So lautet das Motto von Jaguar. Vorbei die Zeiten des X-Type auf Basis des Ford Mondeo und der unterschiedlichen Designsprachen. Mit dem neuen Jaguar XE wagen die Briten den Aufbruch in eine Zukunft mit fortschrittlicher Technik und Modellen wie dem SUV F-Pace. Zugleich soll der XE die deutsche Premium-Mittelklasse aufmischen. Gelingt die Attacke?
Willkommen in der Familie
Werfen wir dazu zunächst ein Auge auf den XE: Unverkennbar sind die BMW-Einflüsse beim Design, vor allem im Bereich der C-Säule. Ob es daran liegt, dass wichtige Top-Manager aus München abgeworben wurden? Aber der XE ist natürlich kein 3er-Klon: Mit 4,67 Meter ist er fünf Zentimeter länger, zudem etwas breiter und flacher, hält aber einen Tick mehr Radstand bereit. Für ausreichend Eigenständigkeit sorgt die Frontpartie, deren Familienähnlichkeit zum neuen XF und dem XJ gewollt ist. Aber mal unter uns: Können Sie eine Mercedes C-Klasse aus der Ferne von einer S-Klasse unterscheiden?
Liebesgrüße vom F-Type
Besonders stolz ist Jaguar auf Rückleuchten im Stil des F-Type, wobei die Heckpartie gegenüber dem Rest des Fahrzeugs etwas uninspiriert wirkt. Überhaupt sei der XE gewissermaßen der F-Type für vier Personen, findet Jaguar. Allzu groß sollte diese aber nicht sein, stelle ich fest, und das im wahrsten Wortsinne. Durch eine eher schmale Luke können bis zu 455 Liter Gepäck in den Kofferraum geladen werden. Auf allen Sitzplätzen geht es ziemlich kuschelig zu. Fondpassagiere müssen beim Einstieg auf ihren Kopf achtgeben, denn trotz Aluminium-Bauweise ist die XE-Karosserie härter als deutsche Schädel.
Da geht noch mehr
Fahrer und Beifahrer trennt ein wuchtiger Mitteltunnel, dessen mauernder Effekt durch die tiefe Sitzposition noch verstärkt wird. Tipp: Ordern Sie besser helle Materialien, denn mit komplett schwarzer Tapezierung stellt sich ein bunkerähnliches Gefühl ein. Hinzu kommt die sogenannte Riva-Spange. Sie soll an die gleichnamigen Luxusboote aus Italien erinnern. Dabei handelt es sich um die obere Kante der Türverkleidung, die recht stark Richtung Fahrer und Beifahrer gebogen ist. Allerdings ist die Materialgüte im Innenraum noch ausbaufähig. Selbst die Top-Ausstattung wirkt kaum hochwertiger als die Basis. Details wie der Rahmen der Fensterheberschalter aus einfachem Kunststoff erinnern eher an französische Kleinwagen denn an britische Noblesse. Keine Frage: Das können besonders Audi und Mercedes besser.
Lieber schalten lassen
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Sitzposition im XE ist sehr gut, das Cockpit gibt keine Rätsel auf. Aber für Personen über 1,85 Meter Körpergröße ist nicht allzuviel Platz über dem Kopf. Ein wirklicher Kritikpunkt ist die Position der Pedale: Sie sind zu hoch angeordnet, was gerade bei den beiden ab Werk mit manueller Schaltung ausgerüsteten Diesel-Modellen negativ auffällt. Hier lassen sich Kupplung und Gas bisweilen schwer dosieren, so dass man gelegentlich wie ein Anfänger über die Straße ruckelt. Nicht nur deswegen sollte man sich gut überlegen, ob die 2.500 Euro Aufpreis für die Achtgang-Automatik im Budget drin sind. Der Schalthebel wechselt zwar auf kurzen Wegen die Gassen, ist aber oft hakelig zu bedienen.
Leicht ist relativ
Auf die Technik des XE ist Jaguar dennoch unglaublich stolz. Nicht zu Unrecht, denn hier wurde nichts eingekauft, sondern alles selbst entwickelt. Die Karosserie besteht zu 75 Prozent aus Aluminium und wiegt roh nur 342 Kilogramm. Der XE mit 180-PS-Diesel bringt 1.550 Kilogramm auf die Waage, was dann doch überrascht, weil der vergleichbare BMW 320d unter der 1.500-Kilo-Marke bleibt. Zweiter wichtiger Punkt sind die neuen Ingenium-Motoren. Wie bei BMW verfolgt Jaguar eine modulare Architektur: Bei den Triebwerken sind die Maße für Bohrung und Hub ebenso identisch wie der Zylinderabstand und das Zylindervolumen von 500 Kubik. Ergo kommen die Vierzylinder auf zwei Liter Hubraum. Sie bringen es als Diesel auf 163 und 180 PS, die Benziner bieten 200 und 240 PS. Aus dem Jaguar F-Type stammt das Aggregat des XE-Topmodells: Der Dreiliter-V6 mit Kompressor leistet 340 PS.
Kein Kombi geplant
Ob es allerdings auch ein R-Modell mit V8 als M3- und C-63-Schreck geben wird, ist noch offen. Auf die Frage nach einem möglichen XE Kombi zeigt sich Jaguar eher pessimistisch, schließlich seien nur England und Deutschland starke Kombi-Märkte. Wer mehr Platz haben möchte, dürfte eher ab 2016 auf das F-Pace genannte SUV verwiesen werden, das im September 2015 auf der Frankfurter IAA debütiert.
Exakt ums Eck
Da sich der F-Pace technisch so einiges mit dem XE teilt, darf man sehr gespannt sein. Für meine erste XE-Runde wähle ich den Diesel mit 180 PS. Er geht sehr laufruhig seiner Arbeit nach, teilt sich aber mit den Vierzylinder-Benzinern eine leichte Anfahrschwäche. Ganz und gar nicht schwach ist die Fahrdynamik des XE: Wahnsinnig präzise pfeilt der Wagen durch die Kurven des Baskenlands, ein Verdienst der erstmals bei einem Jaguar eingesetzten elektromechanischen Servolenkung. Als Fahrer hinter dem griffigen kleinen Lenkrad fühle ich mich im Zentrum und habe den Wagen präzise unter Kontrolle. Leichten Übermut meinerseits folgt ein minimaler Heckschwenk des hinterradgetriebenen XE und der Eingriff des ESP.
Hilfe auf Schnee und Eis
Ab Werk sind die meisten Jaguar XE mit einem Komfort-Fahrwerk ausgerüstet. Damit gleitet man sanft über lange nicht mehr sanierte Landstraßen, ohne das Gefühl einer schaukelnden Sänfte zu bekommen. Im Gegenteil: Die Dynamik bleibt. Eher zu vernachlässigen sind die angebotenen Fahrmodi für Dynamiker oder winterliche Fahrbahn. Schon sinnvoller ist die bei den Automatik-XE serienmäßige “All Surface Progress Control”, kurz ASPC, die etwa im Winter bis 30 km/h vollautomatisch Traktion aufbaut, ohne dass man ein Pedal betätigen muss. Weil ASPC nicht für manuell geschaltete XE erhältlich ist, ist dieser Umstand ein weiterer Pluspunkt für die Automatik.
Man braucht nicht alles
Hinzu kommt, dass die von ZF stammende Schalthilfe ihre acht Stufen flüssig sortiert, wie der Umstieg in den 240-PS-Benziner zeigt. Hier haut die R-Sport-Ausstattung optisch auf den Putz, hinzu kommt ein Sportfahrwerk. Wer jetzt böse Schläge ins Kreuz erwartet, wird enttäuscht. Auch hier federn die Aluminium-Aufhängungen vorzüglich und bügeln die Straße anständig glatt. Einzig die Lenkung spricht noch einen Hauch präziser an als beim Komfort-Fahrwerk, dieser Eindruck fällt aber eher unter Subjektivität. Wer unbedingt will, kann darüber hinaus ein adaptives Fahrwerk bekommen, die 1.100 Euro Aufpreis sind aber verzichtbar.
Was ihr wollt
Diese Summe investiert man besser in Bi-Xenon-Scheinwerfer oder die unverzichtbare Einparkhilfe für Front und Heck. Empfehlenswert sind darüber hinaus das gestochen scharfe Head-up-Display (1.300 Euro) und das im Paket erhältliche Touchscreen-Navi für relativ günstige 940 Euro. Was es sonst noch an Assistenz (etwa ein adaptiver Tempomat oder eine Verkehrszeichenerkennung) oder Luxus sein soll, klärt der Blick auf die eigenen Finanzen. Welche Ausstattungslinie ist optimal? Bereits die Basis bietet eine Zwei-Zonen-Klimaautomatik, 17-Zoll-Alus, einen Tempomat sowie einen Spurhalte-Assistenten und Infotainment mit Acht-Zoll-Touchscreen. Wir empfehlen die 5.500 Euro teurere Portfolio-Linie. Neben 18-Zöllern sind hier die Bi-Xenon-Scheinwerfer und elektrisch verstellbare Sitze serienmäßig an Bord. Übrigens: Jaguar spricht von sieben Motoren, 94 Optionen und 160 Zubehörartikeln, aus denen die XE-Kunden wählen können.
D-Day am 13. Juni
Ab dem 13. Juni 2015 steht der neue XE bei den Händlern, deren Netz laut Jaguar erweitert wird. Die Preise beginnen bei 36.500 Euro für den handgeschalteten 163-PS-Diesel, kurioserweise kostet die Ausführung mit 180 PS den gleichen Betrag. Wir raten daher zum XE 20d mit 180 PS und Achtgang-Automatik, für den 39.000 Euro aufgerufen werden. Ein Schnäppchen gegenüber der deutschen Konkurrenz? Der BMW 320d mit 184 PS und Automatik kostet 38.650 Euro, ist aber ausstattungsbereinigt teurer. 39.150 Euro möchte Audi für den 190 PS starken A4 2.0 TDI mit stufenlosem Multitronic-Getriebe haben, während Mercedes mit 41.322 Euro beim C 220 d mit 170 PS und Siebenstufen-Automatik zulangt. Pluspunkt für Jaguar: Neben der Garantie von drei Jahren sind alle Inspektionen in dieser Zeit inklusive.
(rh)
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