Lissabon (Portugal), 28. Januar 2015
Wissen Sie, was ein “50-Meter-Gefühl” ist? Ich wusste es auch nicht so recht, aber in England scheint dieser Begriff recht beliebt zu sein. Jaguars Entwickler verwenden ihn permanent, wenn es um ihren neuen Mittelklasse-Heilsbringer XE geht. Mit dem “50-Meter-Gefühl” ist folgendes gemeint: Wenn Ihnen der Händler Ihres Vertrauens in seinem Innenhof den Schlüssel zu einer Probefahrt in die Hand drückt, sollen Sie schon beim Verlassen seines Grundstücks ein Gefühl dafür haben, ob Ihr potenzieller Neuer ein echter Glücksgriff oder der letzte Schrott ist. Jaguar hat beim XE ziemlich viel dafür getan, dass Sie eher in Glücksgriff-Stimmung verfallen und am besten sofort vergessen, dass sie ja eigentlich einen 3er BMW oder eine Mercedes C-Klasse kaufen wollten.
Alu-Meister
Die Basics sollten also stimmen. Dafür hat Jaguar wirklich extrem investiert. Alles (und ich meine alles) am XE ist neu. Tausende neue Jobs wurden geschaffen, es gibt ein neues Motorenwerk, in dem die ebenfalls neuen und super sauberen “Ingenium”-Modul-Aggregate gebaut werden und natürlich steht die Mittelklasse-Limousine auch auf einer komplett neuen Plattform. Die Karosse besteht zu über 75 Prozent aus Aluminium (das schafft derzeit kein anderer Wettbewerber) und wird nicht mehr punktgeschweißt, sondern wie in der Luft- und Raumfahrt genietet und strukturgeklebt. Sie ist daher besonders leicht und steif. Der XE ist 20 Prozent steifer als der große Bruder XF und sein Rohbau wiegt nur 253 Kilo. Auch das schafft laut den Briten kein anderer im Segment.
Edle Zutaten
Das mit der Steifigkeit und dem Leichtbau ist wichtig, weil Jaguar seine übermächtig erscheinende deutsche Konkurrenz in erster Linie fahrdynamisch ausstechen möchte. Daher auch die in dieser Klasse reichlich ambitionierte Fahrwerksauslegung mit Doppelquerlenkern vorne und einer Aluminium-Integral-Hinterachse. Ein weiteres Novum für die Raubkatze ist die Installation einer elektromechanischen Lenkung. In England steht man weit mehr als hierzulande auf ein gutes Lenkgefühl und bisher war man der Meinung, hydraulische Lenkungen seien in dieser Disziplin unschlagbar. Allerdings sorgt allein EPAS (Jaguars elektromechanisches System) beim Topmodell XE S für drei Prozent weniger CO2-Ausstoß. Ein schlagendes Argument. Und so hat Jaguar schlappe fünf Jahre an EPAS entwickelt, bis es auch gefühlsmäßig passte. Kleines Beispiel für den Wahnsinn der Briten gefällig? Das System reagiert sogar auf Änderungen der Umgebungstemperatur. Alles andere ist freilich rein subjektiv.
Fahrdynamik-Primus
Zumindest für mich ist das rein Subjektive allerdings ziemlich hervorragend. Und auch der Rest des Fahrkapitels beeindruckt im neuen XE nachhaltig. Ich brauchte zwar etwas mehr als 50 Meter, aber was Agilität, Lenkung, Fahrgefühl und Co. angeht, liegt der kleine Jag mindestens auf Augenhöhe mit der bisherigen Klassen-Fahrmaschine aus München. Mehr Spaß als die C-Klasse macht er ohnehin. Seine Dynamik erkauft sich der XE allerdings mit einer recht trockenen Abstimmung. Und das, obwohl der 340 PS starke XE S serienmäßig über dreifach verstellbare adaptive Dämpfer verfügt.
Spaß auch im Diesel
Der 3,0-Liter-V6-Kompressor kommt übrigens aus dem F-Type. Im XE sorgt er für äußerst standesgemäßen Vortrieb, wirkt aber obenrum und akustisch etwas zugeschnürt. Das kann der Dreiliter-Turbo des BMW 335i besser. Die ZF-Achtgang-Automatik macht einen sehr guten Job, wenn auch nicht ganz so atemberaubend, wie das gleiche Produkt im 3er. Und: Es gibt kein Hinterachs-Differenzial. Während man mit dem XE also wunderbar scharf in die Kurve hineinstechen kann, erntet man beim Verlassen derselbigen ein etwas hölzern durchdrehendes Kurven-inneres Hinterrad. Das stört aber wirklich nur, wenn man fährt wie ein Berserker. Und bei den kleineren XE-Modellen sollte es sowieso kein Thema sein. Beim 180-PS-Ingenium-Diesel etwa, der mit einem Normverbrauch von 4,2 Liter lockt. Er ist untenrum etwas kernig, schiebt aber hervorragend an und geht ähnlich genial ums Eck wie der XE S. Die Firmenwagen-Spaß-Wertung dürfte er jedenfalls locker für sich entscheiden.
Firmenwagen-Wichtigkeit
Das mit der Firmenwagen-Wertung ist für den XE von entscheidender Bedeutung. Daher wird man laut Jaguar sehr attraktive Leasing- und Versicherungspakete schnüren. Und man hat noch ein Ass im Ärmel: Den 163-PS-Diesel mit einem CO2-Ausstoß von 99 Gramm pro Kilometer. Ob sich verwöhnte teutonische Firmenwagen-Nutzer davon (und von der beeindruckenden Fahrdynamik) einlullen lassen, ist dennoch fraglich. Schließlich zählen beim täglichen Kilometerfressen auf der Autobahn auch andere Tugenden. Ein schickes Interieur und ein hochwertiges Infotainmentsystem etwa.
Schwäche nach innen
Das Cockpit des XE ist sportlich und übersichtlich, aber nicht so hochwertig wie beispielsweise in der C-Klasse. Außerdem ist das Auto hinten ziemlich eng geschnitten. Und das neue InControl-Infotainmentsystem mit Acht-Zoll-Touchscreen? Ist technisch voll auf der Höhe und auch intuitiv, aber grafisch nicht mit der deutschen Konkurrenz vergleichbar. Zur Verteidigung des XE muss aber erwähnt werden, dass ich einen Prototypen fuhr (zu erkennen an den hässlichen schwarzen Tür-Aufklebern), der erst zu 94 Prozent fertig ist. Die restlichen sechs Prozent betreffen Kleinigkeiten im Interieur-Finish und an der Software des Navis.
Langeweile nutzen
Letztlich klingt all das dennoch ein wenig ernüchternd und täuscht darüber hinweg, dass der neue Jaguar XE eigentlich ein verdammt gutes Auto geworden ist. Er selbst ist sicher nicht das Problem. Eher die fast schon langweilige Perfektion der deutschen Konkurrenten von BMW, Mercedes und natürlich auch von Audi. Das mit der Langeweile könnte wiederum die große Chance des neuen Baby-Jag sein. Der XE geht ab Juni 2015 zu Preisen ab 36.450 Euro (für den 2,0-Liter-Turbobenziner mit 200 PS) in den Verkauf. Der 180-PS-Diesel mit Achtgang-Automatik startet bei 39.000 Euro. Das Topmodell XE S kostet mindestens 54.600 Euro. Dass das nicht gerade wenig ist, erkennt man auch ohne “50-Meter-Gefühl”. Zum Vergleich: Der BMW 320d mit 184 PS startet bei 38.650 Euro, der 306 PS starke 335i liegt bei 46.900 Euro (beide mit Achtgang-Automatik). Für einen vergleichbaren Mercedes C 220 Diesel mit 170 PS muss man mindestens 41.174 Euro anlegen und der 333 PS starke C 400 wechselt ab 52.412 Euro den Besitzer.
(sw)
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