Austin (USA), 6. Februar 2015
Gustl ist glücklich. Mit einer Hand am Lenkrad bringt BMW-Werksfahrer Augusto Farfus, intern liebevoll “Gustl” genannt, den neuen X6 M zum Driften. Er lächelt diebisch und ist trotzdem nicht ganz zufrieden. Vielleicht geht da noch mehr, murmelt der Brasilianer und sucht im Menü des Wagens nach der Kraftverteilung auf die einzelnen Räder. Nur gut, dass wir jetzt in die Boxengasse abbiegen. Mein Blut pumpt spürbar durch die Adern. Danke, Gustl, mir ist bereits klar, wozu das monströse 575-PS-SUV in der Lage ist.
Fett, aber flott
Zugegeben, der BMW X6 M ist so ziemlich das letzte Auto, was einem beim Thema Drift in den Sinn kommt. Schließlich wiegt das Teil über 2,3 Tonnen. Also eher “Dicke Bertha” statt leichtes Florett. Andererseits steht nun einmal der Buchstabe M am Heck und so bekommt der Sport-Panzer einen panzergleichen Motor unter die Haube gepflanzt. Dessen Eckdaten: Doppelt aufgeladener V8, 4,4 Liter Hubraum, 575 PS, 750 Newtonmeter maximales Drehmoment. Wer wirklich will, kann im fast zwei Meter breiten X6 M mit bis zu 280 km/h über die Bahn brettern. Nur gut, dass Gustl und ich auf dem “Circuit of the Americas” nahe dem texanischen Austin die Kuh fliegen lassen. “Trocken geht auf der Gerade 250 km/h”, meint Farfus lässig zu mir. Nur blöd, dass es wie aus Eimern regnet und ich schon bei 190 Sachen nur noch erahnen kann, wo der BMW-Pilot im Pace-Car vor mir entlangfährt.
Quer sieht mehr
Immerhin: Einen Vorteil hat die glitschige Piste, nämlich den einfacheren Drift. Sogar mit eingeschaltetem ESP schwänzelt der X6 M beim zügigen Herausbeschleunigen aus der Kurve mit dem Heck, kann aber ohne große Mühe wieder eingefangen werden. Der Allradantrieb arbeitet vollvariabel, die Antriebsmomente werden stufenlos zwischen den Hinterrädern verteilt, da BMW hier die Betonung hinlegt. Wirklich bemerkenswert ist, wie leichtfüßig der superstarke BMW um den Kurs zu lenken ist und dabei trotz einer Höhe von 1,69 Meter kaum wankt. Augusto Farfus grinst wie ein volles Sparschwein: “Wenn du zuhause erzählst, dass dieses Auto driftet, glaubt dir das kein Mensch.” Keine Bange, Gustl, wir haben Bilder deiner Quertreiberei. Bestimmt werden sich diverse Power-Papis freuen, vor der Grundschule einen gepflegten U-Turn hinzulegen.
Gewalten-Teilung
Ich überlasse das lieber dem Profi und klettere neben Gustl auf den Beifahrersitz. Nur um ziemlich schnell den fehlenden Haltegriff über mir zu vermissen. Auf dem Papier beschleunigt der BMW X6 M in 4,2 Sekunden auf 100 km/h. Aber Papier ist geduldig, das Dickschiff unter unserem Allerwertesten nicht. Mister Farfus gibt ordentlich Tinte auf den Füller und mich presst es in den Sitz. Sind die offiziellen M-Spucktüten in Griffnähe? Im Duell Schwerkraft gegen Innereien steht es gefühlt schon 3:0. Ich komme mir vor, als stände ich neben dem 42-cm-Mörser aus dem Ersten Weltkrieg, auch “Dicke Bertha” genannt. Aber ich sitze mittendrin.
Macho-Auftritt
Denn mal unter uns: Seltsam ist das schon. Da schraubt BMW neuerdings in immer mehr Baureihen diverse Dreizylinder hinein. Ist ja so furchtbar effizient und sparsam bis zum Anschlag. Und dann kommt der neue X6 M. Ein Auto wie ein Edelbordell: Pervers, aber geil. Mächtige Schürzen mit üppigen Lufteinlässen senken die Sozialverträglichkeit auf Robert-Geiss-Niveau. Eine 285er/325er-Mischbereifung auf bis zu 21 Zoll großen Felgen sowie ein Tacho bis 330 km/h machen auf dicke Hose. Keine Frage, dieses Auto mag mancher für obszön halten, einigen Grünen-Anhängern wird bei dem Anblick das vegane Wurstbrot aus der Hand fallen. Wenn sie ihn hierzulande überhaupt einmal erblicken: Der größte Markt für M-Modelle sind die USA. Dort wurden 2014 insgesamt 11.400 Fahrzeuge mit dem Kraft-Buchstaben am Heck verkauft. Bei Spritpreisen von um die 50 Cent lächelt die Ami-Kundschaft wohl auch nur über den höchstoffiziell auf 11,1 Liter gesenkten Verbrauch des X6 M.
Der Gentleman-Gigant
Zwischen San Francisco und New York wird man sich hauptsächlich am Alltagskomfort des X6 M erfreuen. Per Schalter lassen sich einige Fahrparameter ändern. Ich setze die Gasannahme auf “Sport”, für die Federung und Lenkung ist “Comfort” angesagt. So lässt es sich entspannt dahingleiten oder anders formuliert: So könnte auch die Hausfrau zum Aldi fahren. Dem im Nobelvorort. Klar, den “Dicke-Bertha”-Effekt könnte auch sie ausnutzen. Nur ist das mit 575 PS auch keine große Kunst. Schon eher, dass es die BMW-Ingenieure geschafft haben, dass sich Bertha gar nicht so dick anfühlt. Mit der feinfühligen Lenkung lässt sich der ziemlich unübersichtliche X6 M exakt navigieren. Auch der Abrollkomfort überrascht: Trotz montierter 21-Zöller werden die Bandscheiben auf den sehr bequemen Sportmöbeln geschont.
Teuer und doch günstig
Sie gehören zur Serienausstattung, ebenso wie LED-Scheinwerfer, ein Head-up-Display sowie das um zehn Millimeter tiefergelegte Fahrwerk und die sportlicher abgestimmte Achtgang-Automatik mit Schaltwippen am Lenkrad. Das kann man allerdings auch erwarten, denn für den X6 M ruft BMW 117.700 Euro auf. Wer es etwas preiswerter und geräumiger mag: Den ebenfalls 575 PS starken X5 M gibt es für 114.300 Euro. Hinsichtlich der Konkurrenz fällt uns spontan der 550 PS starke Range Rover Sport SVR für 125.910 Euro oder auch das neue Mercedes-AMG GLE 63 Coupé mit bis zu 585 PS ein, aber Augusto Farfus sieht nur einen Gegner: Den neuen Porsche Cayenne Turbo S mit 570 PS und 800 Newtonmeter Drehmoment, der die Nürburgring-Nordschleife in knapp unter acht Minuten umrundet hat. (Und mit einem außerirdischen Preis von 166.696 Euro bei uns heftige Schnappatmung verursacht.) Gustl und Bertha sollten vielleicht mal in die Eifel reisen.
(rh)
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