Carlsbad (USA), 16. Februar 2016
Ich möchte hier nicht lange um den heißen Brei herumreden: Der Bentley Bentayga ist der erste Vertreter einer neuen und höheren Stufe auf der Leiter des Power-und-Luxus-SUV-Irrsinns. Allgemein erweitert er eine Geländewagen-Welt, die bislang bei wahnsinnigen Performance-Auswüchsen wie dem X5 M, dem Sport SVR oder dem Cayenne Turbo S endete. Was der BMW, der Range Rover und der Porsche gemeinsam haben? Luxus, Power und Größe. Und ein Ticken zu viel Dekadenz ist bei einem Basispreis von über 100.000 Euro ebenfalls inklusive. Doch der Bentayga hat mehr davon. Und zwar von allem. Ob er deshalb besser ist?
Das Grundgerüst
Fassen wir die Eckdaten mal schnell zusammen: Für den aberwitzigen Basispreis von 208.500 Euro (ja, dafür bekommt man fast zwei BMW X5 M … oder 21 Lada Niva) baut Bentley einen brandneuen 6,0-Liter-W12-TSI-Motor aus der Entwicklung des Volkswagen-Konzerns in eine 5,14 Meter lange, zwei Meter breite und 1,74 Meter hohe Alu-Karosse mit Stahl-Alumiumium-Monocoque. Obwohl der Bentayga auf der MLB-Plattform des Audi Q7 aufbaut, ist er knapp 400 Kilogramm schwerer als der Ingolstädter. Gesamtgewicht? Stolze 2.440 Kilo.
Aufgeblasen und trotzdem subtil
Versehen wird das gewichtige Fahrzeug mit einer relativ schlichten, aber sehr eleganten Optik. Die Front wirkt wie ein höher gelegter Continental GT mit Unterfahrschutz, das Heck erinnert an den Hintern eines Flying Spur. Zwar ohne Kofferraum-Stufe, dafür aber mit einer erfolgreichen Silikonbehandlung. Ja, er wirkt sogar für einen Bentley sehr aufgeblasen, aber haben Sie etwas anderes erwarten? Und außerdem geht die günstigere Power-SUV-Konkurrenz mit deutlich weniger Subtilität vor …
Bentayga versus A380
608 PS und 900 Newtonmeter Drehmoment, die schon ab 1.350 Umdrehungen pro Minute anliegen und über eine Achtgang-Automatik an einen hecklastigen Allradantrieb geliefert werden, sprechen eine eindeutige Sprache. Schon ab dem tiefen Drehzahlkeller schiebt der Antriebsstrang dermaßen nach vorne, dass man sich zwingen muss, ab und zu mal Luft zu holen. In 4,1 Sekunden fällt die 100-km/h-Marke und Schluss ist erst bei prestigeträchtigen 301 km/h. Der Porsche Cayenne Turbo S beschleunigt zwar genauso schnell auf Landstraßentempo, kapituliert aber bereits bei einer Höchstgeschwindigkeit von 284 km/h. Was dem brutalen Bentayga-Druck allerdings fehlt, ist eine akustische Untermahlung für die Ohren. Er hat was von einem Airbus A380: groß, schwer, leistungsstark und leider eben ziemlich leise. Während ein SVR-Range seine 550-V8-PS als laute und unregelmäßige Explosionsgeräusche aus seinem Hinterteil rotzen lässt, vernimmt man von den 608 Pferden des Bentayga lediglich ein sonores Brummen. Schade.
Kurvendynamik auf Konkurrenz-Niveau
Damit die zwölfzylindrige 2,4-Tonnen-Schrankwand aber nicht nur Geradeaus richtig gut kann, hat Bentley das sowieso schon komplizierte Mehrlenker-Luftfahrwerk mit einer sehr zielgenauen elektrischen Servolenkung sowie einem noch komplizierteren und elektrischen 48-Volt-System zur Wankstabilisierung versehen. Die Lenkung könnte gerade im Sportmodus über etwas stärkere Rückstellkräfte verfügen, doch das System zur Wankstabilisierung versteift je nach Fahrsituation die Stabis in Echtzeit und sorgt so für verhältnismäßig gute und sportliche Kurvengeschwindigkeiten sowie für einen hohen Fahrkomfort im Alltag. Damit kann der teure und schwere Lord locker mit der weniger luxuriösen Performance-Konkurrenz mithalten. Dennoch soll eine “Speed”-Variante vom Bentayga kommen und sie wird noch stärker, noch schneller und noch verrückter werden. Was wir uns außerdem wünschen? Eine etwas auffälligere Optik und Akustik sowie Keramik-Carbon-Bremsen, denn die Stahl-Scheiben haben schon Probleme, das “normale” Modell zum Stehen zu bringen.
Prunk und Protz mit VW-Golf-Reliquien
Im Innenraum ist dann aber endgültig Schluss mit vornehmer Zurückhaltung: Damit der mit betriebswirtschaftlichem Erfolg verwöhnte Kunde, der Erbe oder der Angehörige einer Adelsfamilie schon vor dem Losfahren merkt, wo seine vielen Euros geblieben sind, vernäht Bentley im Interieur das Leder von 15 Kühen. Der großflächige Einsatz von Holz und Aluminium ist ebenfalls selbstverständlich. Genau wie die Verwendung von … ähm ja … Plastikschaltern und Kunststoffhebeln, die man so ähnlich auch aus einem Golf kennt. Eigentlich Schade, denn die Verarbeitung ist aller erste Sahne und die technische Grundausstattung mit schickem Acht-Zoll-Infotainment-Touchscreen, guter Konnektivität sowie sinnvollen Assistenzsystemen passt. Wenn Bentley jetzt noch auf die VW-Reliquien verzichtet hätte, könnte man tatsächlich von einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis sprechen.
Bequeme Sitze, viele Kinder und noch mehr Fahrmodi
In der ersten Reihe sitzen die Passagiere auf großen Sesseln, die sich 22-fach verstellen lassen, die massieren und belüften. Im Fond hat man die Wahl zwischen einer ordinären Rückbank mit drei Sitzen oder zwei Einzelsitzen. Eine Version mit sieben Sitzen ist ebenfalls in Planung. Warum wissen wir als Europäer nicht so genau, denn die nach hinten stark abfallende Dachlinie wird die dritte Reihe wohl ziemlich ungemütlich machen. Auf anderen und wichtigeren Märkten wie in China, den USA oder den Arabischen Emiraten schätzt man allerdings die Möglichkeit, auch mal mehr als fünf Personen transportieren zu können. Und wenn in der dritten Sitzreihe manchmal eben nur die Käfige für die Jagdfalken angeschnallt werden …
“Können” statt “Müssen”
Doch bei Bentley geht es öfter um “Können” und nicht um “Müssen”. Deshalb hat der Bentayga auch eine Bodenfreiheit von immerhin 245 Millimeter sowie eine Wattiefe von 500 Millimeter vorzuweisen. Diese Werte sollten reichen, um standesgemäß und ohne Angstzustände über den Feldweg in die ländliche Sommerresidenz zu rollen. Mehr würde auch gehen, aber wer will das schon? Wer aber noch mehr möchte (und das will man als Bentayga-Kunde ganz bestimmt), der kann sogar ein Offroad-Paket bekommen. Dieses beinhaltet vor allem Fahrmodi. Acht Stück sind es mit dem Paket insgesamt. Zu Comfort, Sport, Bentley und Custom kommen dann noch die vier Programme Snow & Grass (für St. Moritz), Dirt & Gravel (für die Schlossauffahrt), Mud & Trail (für den Offroad-Park des Adeligen) sowie Sand Dunes (für den Scheich am Wochenende).
Quo vadis Bentley und Bentayga?
Alles schön und gut, aber warum braucht eine englische Traditionsmarke überhaupt ein SUV? Nun ja: Riesige Limousinen und genauso riesige Sportcoupés verkaufen sich heutzutage einfach nicht so gut wie ein SUV. Rund 10.000 Fahrzeuge hat Bentley im Jahr 2015 insgesamt verkauft und siehe da, laut Herstellerangaben sind bereits jetzt mehr als 5.000 Bentayga-Einheiten bestellt worden. Und zwar, obwohl es nur das Zwölfzylinder-Modell gibt. Doch auf den Zielmärkten ist eine solche Motorisierung eher recht als schlecht. Damit es in Zukunft auch noch in Europa klappt, werden ein V8-Diesel sowie ein Plug-in-Hybrid-Benziner folgen. Beide Antriebe sind sicherlich gut für die Verkaufzahlen. Und außerdem verbessern sie die vom Gesetzgeber geforderte CO2-Bilanz. Und die Markenidentität? Die wird wohl kein Problem damit haben. Bei Porsche hat es mit dem Cayenne (den es schließlich auch als Plug-in-Hybrid und Diesel gibt) ja auch geklappt.
Darum muss es ein Bentley sein
Aber warum kauft man sich überhaupt einen Bentley? Wegen dem Aussehen? Wegen den Fahrleistungen? Wegen der Verarbeitung? Oder vielleicht doch einfach nur, weil man sich einen Bentley kaufen möchte? Man kauft sich einen Bentley, weil man es kann. Alle seine tollen Annehmlichkeiten sind dann eine positive Begleiterscheiung. Und so ist auch der Bentayga – wie seine ebenfalls sehr teuren Hersteller-Kollegen – nur im Nebenberuf ein Fortbewegungsmittel und eigentlich eher ein Statussymbol. Er ist wie eine teure Uhr. Apropos Uhr: Wem 208.500 Euro noch zu wenig sind: Die Aufpreisliste ist genauso atemberaubend wie die technischen Daten. Wie wäre es beispielsweise mit einem Picknick-Set für 25.942 Euro oder einer Breitling-Uhr im Armaturenbrett für sagenhafte 150.000 Euro? Warum? Wie gesagt, weil man es sich leisten kann und weil man das seinen Mitmenschen zeigen möchte. Nicht zuletzt diese Eigenschaften machen den Bentayga fast noch eindrucksvoller als den Mulsanne oder den Continental GT. Er ist der vielleicht beste Bentley aller Zeiten.
(ml)
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