Lissabon (Portugal), 10. März 2016
Unsere Autos werden immer mehr zu einer Art Kreuzung aus Computer, Wohnzimmer und Straßenbahn: Bedienung per Touchscreen, schicker als die First-Class-Lounge und fast schon ohne Fahrer mobil. Für die neue Generation der Mercedes E-Klasse gilt das ganz besonders. Wir haben das im April 2016 startende Auto getestet.
E 220 d mit schwungvollem 194-PS-Diesel
Die E-Klasse türmt ein Hightech-Element aufs andere, aber das darf nicht die Basics verdecken, und dazu gehören immer noch die Motoren. Zum Start gibt es nur drei davon. E 220 d, E 350 d und E 200 werden zunächst ausschließlich mit Neungang-Automatik geliefert, weitere Motor- und Schaltversionen folgen bald. Ich konzentriere mich hier auf den E 220 d. Nicht nur, weil der 194 PS starke Diesel zu den gefragtesten Motoren gehören wird, er ist auch der erste einer neuen Aggregategeneration. Er bewegt die rund 1,7 Tonnen schwere Reiselimousine ohne erkennbare Schwierigkeiten. Das Drehmoment von 400 Newtonmeter sorgt für ein gutes Beschleunigungsgefühl, die Sprintzeit von 7,3 Sekunden belegt die Kavalierstartfähigkeiten. Früher wäre sowas ein Trumpf im Autoquartett gewesen – der erste VW Golf GTI zum Beispiel brauchte noch 9,2 Sekunden.
Überzeugende Akustik
Leistung hat mein E 220 d genug, aber auch die Akustik überzeugt nun: Es ist sehr leise in der E-Klasse, das Dieselnageln ist nur ganz selten und bei genauem Hinhören wahrnehmbar. Hieran hat Mercedes aber auch besonders gefeilt, unter anderem mit schalldämpfenden Kunststoffteilen als Motorträger. Auch die Common-Rail-Einspritzung der vierten Generation mit bis zu 2.050 bar dürfte ihren Anteil daran haben.
Niedriger Verbrauch
Die neue Einspritzung sorgt aber auch für einen geringeren Verbrauch. Demselben Ziel dient das verringerte Motorgewicht – der neue Zweiliter wiegt 46 Kilo weniger als der 2,1-Liter-Vorgänger – und die verringerte Reibung. Die Aluzylinder haben dafür eine hauchdünne Eisenbeschichtung erhalten, um einen geeigneten “Reibpartner” (lustig wie sich Ingenieure manchmal ausdrücken) für die Eisenkolben abzugeben. Summa summarum ergibt sich ein Normverbrauch von 3,9 Liter. Ein hervorragender Wert, auch wenn die Konkurrenz nicht viel schlechter liegt: Ein BMW 520d mit Achtgang-Automatik wird mit 4,1 Liter angegeben, der Audi A6 2.0 TDI S tronic mit 4,2 Liter.
Nicht überzeugend: Abgasbehandlung
Durch die VW-Affäre und die hohen Stickoxid-Werte in deutschen Großstädten ist die Abgasreinigung bei Dieseln ein heißes Thema. Ein Mercedes-Modell (C 220 CDI) fiel kürzlich durch überhöhte Emissionen bei niedrigen Außentemperaturen auf. Beim neuen Diesel, erklärt mir Dieselfachmann Markus Kemmner, ist der SCR-Katalysator nun nah am Motor installiert, sodass er schneller warm wird. “Der SCR-Kat arbeitet eben erst ab 180 oder 200 Grad”, so Kemmner. Wäre da nicht ein ergänzender Speicher-Kat, der auch bei niedriger Temperatur arbeitet, eine bessere Lösung? “Wir schauen uns das an, aber mehr in Hinsicht auf kommende Abgasvorschriften”, sagt Kemmner und meint offenbar die zweite Stufe der künftigen RDE-Vorschriften (Real Driving Emissions), bei der die Emissionen im realen Verkehr nicht mehr viel höher als auf dem Prüfstand sein dürfen. Das für die NOx-Bekämpfung nötige Adblue wird in einem 25-Liter-Tank mitgeführt, was für 17.000 Kilometer reichen soll – pro 1.000 Kilometer sind laut Kemmner etwa anderthalb Liter nötig.
Vier verschiedene Fahrwerke
In puncto Fahrwerk ist die E-Klasse kein einfacher Fall, denn es gibt sage und schreibe vier verschiedene. Serie ist ein Stahlfahrwerk mit adaptiven Dämpfern, das es auch in einer leicht sportlichen und in einer definitiv dynamischen Variante gibt. Mein Auto hat die teuerste Alternative, die Luftfederung (Air Body Control) für 2.261 Euro. Sie ist über den Fahrmodus mehrstufig einstellbar, und die Spreizung ist groß. Den Komfortmodus empfinde ich wegen des undefinierten Lenkgefühls als unangenehm und entscheide mich schnell für den Sportmodus, wo das Fahrzeug auch beim schnellen Hin- und Herlenken straff auf der Straße kleben bleibt. Straßenunebenheiten werden dennoch sehr gut herausgefiltert. Die Luftfederung ist ein hervorragendes Argument für die E-Klasse – beim BMW 5er zum Beispiel gibt es Derartiges nicht.
Fast wie in der Badewanne
Das allgemeine Fahrgefühl ist wie erwartet: Die E-Klasse ist eine Sänfte. Sportlich mag man mit dem fast 1,7 Tonnen schweren Auto nicht fahren, auch wenn man viel Leistung unter der Haube hat. Die Schaltwippen am Lenkrad hoffen vergeblich auf Beachtung, und den guten Seitenhalt der Sitze nutze ich nur selten. In der E-Klasse gleite ich mehr, als dass ich wirklich aktiv fahre. Bis zum Kinn stecke ich im Auto – als säße ich in der Badewanne. Kein schlechtes Gefühl, auch wenn der Schaum und das warme Wasser fehlen, aber zum Aktivwerden verleitet diese Position nicht.
Edler als das Durchschnitts-Wohnzimmer
Aber kommen wir von den Badezimmer- zu den Wohnzimmer-Qualitäten. Edel sieht die E-Klasse innen aus, auf jeden Fall viel nobler als eine deutsche Durchschnittswohnung. Für meinen Geschmack übertreibt es Mercedes aber inzwischen ein wenig – auf mich wirkt das viele dicke Leder und das blitzende Metall aufdringlich und etwas protzig. Aber dann gibt es doch wieder wunderbare Details wie die Burmester-Hochtöner. Gut und gerne zehnmal nacheinander könnte ich die schönen runden Lautsprecher ein- und ausfahren lassen. Beim Hochdrehen der Lautstärke schrauben sie sich wie von Zauberhand aus der A-Säule heraus, und dahinter wird ein Ring aus blauem Ambientelicht sichtbar. Wunderschön ist das. Aber ach, die Anlage kostet über 5.000 Euro.
Zwei Riesen-Displays – gegen üppigen Aufpreis
Beeindruckend schön und beeindruckend teuer sind auch die beiden Riesen-Displays meines Testwagens. Serienmäßig hat die E-Klasse nur ganz normale Rundinstrumente, aber hier gucke ich auf zwei 12,3-Zoll-Monitore, die durch das gemeinsame Deckglas aussehen wie aus einem Guss. Kostenpunkt, inklusive Comand-Online-Navi: rund 4.400 Euro. Bedient wird das Ganze über die bekannten Elemente Touchpad und Drehrad in der Mittelkonsole oder neuerdings auch über die kleinen Touch-Flächen im Lenkrad. Braucht man das? Ich nicht. Nach einmaligem Ausprobieren verwende ich doch lieber das vertraute Drehrad.
Fahren wie mit der Straßenbahn?
Nächstes Kapitel: die Straßenbahnqualitäten. Die E-Klasse fährt ein bisschen – aber noch nicht ganz – von alleine. Auf der Autobahn ziehe ich zweimal am Tempomathebel, und aktiviere so den Drive Pilot. Das Auto beschleunigt von selbst auf die aktuell geltende Höchstgeschwindigkeit – neben den Infos aus dem Navi werden auch die der Verkehrszeichenerkennung berücksichtigt. Das Lenken übernimmt ebenfalls das Auto, und zwar für beeindruckend lange Zeit. Geschätzte zwanzig oder dreißig Sekunden lang muss man das Lenkrad gar nicht mehr anfassen. Dann reicht ein kleiner Ruckler am Steuer, und es geht autonom weiter. Sind die Fahrbahnmarkierungen zu schwach, folgt der Mercedes dem Vordermann. Fehlerlos klappt das Ganze allerdings noch nicht. Einmal fährt mein Auto unversehens nach links, weil es einem querschießenden Vordermann folgt. Eine Erleichterung auf öden Autobahnetappen ist das System jedoch auf jeden Fall.
Unnütze Überholfunktion
Kaum nutzen würde ich die automatische Überholfunktion. Setze ich bei aktiviertem Drive Pilot den linken Blinker, schert mein Auto automatisch nach links aus (wenn der Totwinkelassistent freie Bahn meldet). Ich kann an einem vorausfahrenden Auto vorbeiziehen und danach nach Setzen des Blinkers wieder einscheren. Für den Vorgang braucht man allerdings große Verkehrlücken – so viel Platz ist auf hiesigen Autobahnen oft nicht.
Magisch: Das schwarze Rechteck
Wesentlich nützlicher ist der Matrix-LED-Scheinwerfer, bei Mercedes “Multibeam LED” genannt. In der Dunkelheit folge ich mit meinem E 220 d einem anderen Fahrzeug auf der Landstraße. Um Fern- oder Abblendlicht muss ich mich nicht mehr kümmern, die Scheinwerfer blenden automatisch auf und ab, und noch häufiger wird Gegen- oder Vorausverkehr einfach ausgeblendet. Ich beobachte, wie der Fiat vor mir von einem schwarzen Rechteck abgedeckt wird, das immer mitwandert, egal ob der Fiat auf einer Kurve nach links oder nach rechts vorausfährt – das wirkt fast wie Magie.
Ferngesteuert einparken per Handy
Auch beim Einparken bietet die E-Klasse Besonderes. Einen Einparkassistenten, der das Lenkradkurbeln übernimmt, gibt es inzwischen fast überall, doch bei der E-Klasse werden auch Gas und Bremse übernommen. Und man kann das Auto sogar von außen fernsteuern. Das Ein- und Ausparken per Handy-App ist allerdings wohl nur in Spezialfällen sinnvoll. Etwa, wenn man nach dem Restaurant- oder Theaterbesuch zum Wagen zurückkommt, der in der Querparklücke nun hoffnungslos links und rechts eingekeilt ist.
Sicherheit auch am Stauende
Bei stehenden Hindernissen wirkt ein Abstandstempomat nicht, sonst würde jede Seitenplanke, jeder Stromschaltkasten und jeder Lichtmast zu einer Bremsung führen. Doch am Stauende hilft bei der E-Klasse eine Notbremsfunktion: Ist kein Ausweichen möglich, weil alle Spuren belegt sind, bremst der Wagen autonom. Bis Tempo 100 wird der Unfall ganz verhindert, bis 130 km/h abgemildert. Auch Kollisionen mit Querverkehr können vermieden werden, wobei Mercedes die Car-to-Car-Kommunikation einsetzt – eine weitere Weltneuheit. Die E-Klasse unterstützt einen auch beim Ausweichen, bei der rechtzeitigen Erkennung von querenden Fußgängern und bei vielem mehr. Zu viele Weltneuheiten für einen Artikel! Dass es in dem dicken Helfer-Katalog neben vielem Sinnvollen auch ein bisschen Quatsch gibt, belegt für mich “Pre-Safe Sound”: Das System bereitet das Gehör durch ein elektronisch erzeugtes Geräusch vor und soll so Gehörschäden durch das Unfallgeräusch vorbeugen. Klingt das nicht reichlich überkandidelt?
Zuletzt: Die Preisfrage
Den E 220 d gibt es mit Neungang-Automatik für 47.124 Euro. Wie so oft ist Mercedes damit teurer als die Konkurrenz: Der BMW 520d mit 190 PS und Achtgang-Automatik kostet nur 45.450 Euro, der Audi A6 2.0 TDI S tronic mit ebenfalls 190 PS nur 44.600 Euro. Doch wenn Sie sich Gedanken über ein paar tausend Euro machen, sollten Sie überlegen, ob die E-Klasse das richtige Auto für Sie ist. Eine gut ausgestattete C-Klasse ist bei Geldknappheit vielleicht eine bessere Option – Luftfederung gibt es schließlich auch dort. Das Wesentliche ist zwar auch bei einer nackten E-Klasse an Bord, aber ohne Extras ergibt eine E-Klasse keinen Sinn. Für den Langstrecken-Einsatz würde ich das Fahrerassistenzpaket inklusive Drive Pilot für 2.261 Euro und zumindest das kleine Garmin-Navi für rund 1.000 Euro empfehlen, und gerne auch die Luftfederung für 2.261 Euro. Aber dann sollten Sie bald Schluss machen, bevor das neue Auto zum finanziellen Abenteuer wird.
(sl)
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