München, 28. April 2014
Das letzte Mal, dass ich so ein völlig irres Gefühl hatte, war auf einem bayerischen Volksfest. Ich raste in der Gondel eines dieser Volksbelustigungs-Ungetüme im freien Fall nach unten und war dem Erfinder des stählernen Sicherheitsbügels dankbar. Jaaa!!! … Beschleunigung kann Sucht erzeugen. Das Rummelgeschoss kommt mir in den Sinn, als ich an der Autobahnauffahrt im McLaren 650S Spider das Gaspedal ins Bodenblech trete. Unerbittlich reißt es das Auto so brachial nach vorn, dass es mir die Mundwinkel in Richtung Ohren zieht. Gleichzeitig wachsen die Bedenken, dass ich meinen Hintern nie wieder aus der Carbonsitzschale rauskriege, so sehr zieht die Briten-Flunder nach vorn und drückt mich gleichzeitig nach hinten. Die Straße erscheint immer enger, die Leitplanken verschmelzen zu einem einzigen grauen Band und nur der weiße Streifen in der Mitte bleibt eine Konstante. Natur? Ja ja, gibt’s wohl auch irgendwo da draußen. So muss sich eine Stubenfliege fühlen, wenn sie per Fingerschnipp von der Couch katapultiert wird.
Drei Sekunden auf Hundert
Hinter mir brüllt der V8, als will er seine 650 Hengste zur absoluten Höchstleistung anfeuern. Nach drei Sekunden wird der Digitaltacho dreistellig, nach knapp über acht Sekunden steht eine “2″ an vorderster Stelle. Das ist ungefähr die gleiche Zeit, die ein sittlich gereifter Silverager braucht, um beim Ampelgrün den Wahlhebel seiner E-Klasse auf “D” zu stellen. 26,5 Sekunden nach dem Start flimmert sich die McLaren-Anzeige auf Tempo 300 und erst bei knapp 330 km/h ist Schluss.
Dach öffnet in 17 Sekunden
Doch spitzenmäßig geradeaus zu fahren ist nur das eine Wohlgefühl im McLaren. Eigentlich ist der Weg dorthin das Ziel und der darf auch gern stundenlang über Landstraßen gehen. Am besten im Spider mit offenem Dach. Das öffnet per Knopfdruck und verschwindet innerhalb von 17 Sekunden unter einer Klappe hinter den Passagieren, was sogar bis 30 km/h geht. Es sitzt sich recht bequem, selbst an die erwähnten, nur längs verschiebbaren Carbonschalen kann ich mich gewöhnen, selbst wenn sie für kräftigere Menschen recht eng sind. Es sind aber auch beheizbare Sitze bestellbar, die sich vielfach verstellen lassen und sogar eine Memory-Funktion haben.
Tiefe Sitzposition
Ein- und Aussteigen ist in jedem Fall mit ein paar Verrenkungen verbunden, weil man ja tief runter muss und es einen wirklich breiten Schweller zu überwinden gilt. Der McLaren hat innen sehr viel Carbon und Alcantara zu bieten, jedoch sind keine nennenswerten Ablagemöglichkeiten für Krimskrams da. Dafür gibt’s ein Navi mit Farbdisplay schon ab Werk. Gegen Aufpreis ist ein Soundsystem von Meridian zu haben. Das kann man sich aber sparen, die schönste Musik kommt ohnehin aus Richtung Motor und Auspuff. Schon beim Druck auf den Startknopf verstummt das Gespräch mit dem Schalen-Nachbarn. Die Soundentwicklung der Briten-Flunder ist einfach nur verschärft geil. Die Tonlagen reichen vom bissigen Fauchen über Brummen und Zischen bis hin zum hemmungslosen Brüllen, wenn der Achtzylinder richtig entfesselt wird. Wer sich an solch erotischer Maschinenmusik erfreuen kann, muss den McLaren in einem Tunnel erleben. Lässig mit der linken Hand an der Lenkradwippe runterschalten soweit es geht und dann je nach Akustik-Bedarf Gas geben. Das bollert derart schön in der Röhre, dass die anderen Tunnelnutzer Angst vor dem Weltuntergang kriegen.
Vielfach einstellbar
Noch schöner ist es, den sonoren Sound auf einer kurvigen Landstraße zu erleben, denn dafür ist der McLaren wie geschaffen. Der 650S ist alles andere als ein knallhartes Renn-Brett. Sowohl die Härte der Dämpfer als auch die Gasannahme des Motors und die Schaltzeiten des Siebengang-Doppelkupplungsgetriebes lassen sich je nach Bedarf schärfen. Dafür gibt es zwei Drehknöpfe in der Mittelkonsole, an denen sich die Stufen “Normal”, “Sport” und “Track” einstellen lassen, der Antrieb hat zusätzlich noch einen “Winter”-Modus. Bemerkenswert ist, dass der Supersportler im Normalmodus sogar einen recht guten Federungskomfort bietet. Also, natürlich nicht wie eine S-Klasse, aber für den Alltag reicht das aus.
Aktive Chassis-Kontrolle
Dafür wird der Unterbau in der “Sport”-Einstellung spürbar härter. Im 650S kommt nämlich, wie beim Vorgänger 12C, die innovative “ProActvie Chassis Control” (PCC) zum Einsatz. Dabei sind die Stoßdämpfer miteinander hydraulisch verknüpft und alle mit einem gasgefüllten Speicher verbunden. Das System passt sich superschnell auf den Zustand der Strecke und die Vorlieben des Lenkers an und reduziert Wankbewegungen in der Kurve. Serpentinenstrecken meistert der Bolide dadurch mit Bravour. Eingepflanzte Formel-1-Gene lassen den Hecktriebler fast neutral durch schnelle Kurven zirkeln. Dabei hilft nicht nur die Dreieckslenker-Aufhängung aller vier Räder, sondern auch die sogenannte “Brake Steer”-Technologie. Dabei wird in der Kurve das innenliegende Hinterrad angebremst und damit der Vorderwagen zum Scheitelpunkt der Kurve hin ausgerichtet. Das erlaubt, später zu bremsen und früher wieder Gas zu geben, außerdem wird Untersteuern reduziert. Am Steuer merke ich natürlich nur die Wirkung der ausgeklügelten Ingenieurskunst, wenn ich links-rechts … zack-zack … ohne Karosserieneigungen rasend schnell durch die Biegungen komme.
Zupackende Carbon-Keramik-Bremsen
Selbst Bremsen ist im 650S-McLaren noch ein Genuss, wenn vorn fadingresistente 394er-Carbon-Keramikscheiben in die Zange genommen werden, und hinten 380er-Platten aus gleichem Material fest gepackt werden. Zum Vergleich: Eine Familienpizza für mehrere Normalesser ist etwa genauso groß. Und es ist ein cooles Schauspiel, wenn beim starken Verzögern der Heckflügel zur McLaren-Luftbremse umschwenkt und wie ein schwarzer Balken den Rückspiegel dominiert. Wenn man voll in die Eisen steigt, legt der Brite von 100 km/h bis zum Stillstand auf trockener Fahrbahn nur knapp 31 Meter zurück, das ist schon ein bemerkenswert kurzer Anhalteweg.
Erfolge in der Formel 1
Der Name McLaren hat bei Autofans seit Jahrzehnten einen rasanten Klang, nicht nur wegen der ellenlangen Sieg-Liste in der Formel 1. Auch beim Bau von Supersportwagen für die Straße hat sich die Firma einen Namen gemacht, etwa mit dem F1 von 1994 bis 1997, dem Kooperations-Kind Mercedes SLR McLaren von 2003 bis 2009 und dem P1 von 2013. Letzterer ist Lady Gaga auf Rädern: Ein 916 PS starker Hybridsportler, der in einer Kleinserie von 375 Stück zum Preis von je (!) 1,1 Millionen Euro feilgeboten wurde. Die übrigens alle schon verkauft sind.
Spider kostet 255.000 Euro
Der 650S ist das derzeit einzige Modell des britischen Automobilherstellers. Er wird nicht nur als Spider, sondern auch als Coupé angeboten. Mit ihm geht der seit 2010 gebaute 12C in Frühpension. Zunächst sollten beide Modelle parallel angeboten werden, aber die Kunden favorisieren laut McLaren in erster Linie das neue Modell. Diese Entscheidung setzt allerdings das Vorhandensein von mindestens 231.500 Euro fürs Coupé oder 255.000 Euro für den Spider voraus. Die Carbon-Keramik-Bremsen sind, wie erwähnt, ebenso ab Werk dabei wie das Navigationssystem. Zubuchbar sind hauptsächlich jede Menge Carbonapplikationen für innen und außen, Carbonschalen- oder Ledersitze und ein Sportauspuff. Unseren Testwagen haben die Kohlenstoff-Anbauteile und einiges andere auf über 300.000 Euro summiert.
Nur wenige Konkurrenten
Die Konkurrenz ist recht dünn gesät: Gegner wären der 610 PS starke Lamborghini Huracán für 201.705 Euro, der Ferrari 458 Spider mit 570 PS für 221.600 Euro und der Mercedes SLS AMG GT Roadster Final Edition mit 591 PS für 233.835 Euro.
(hd)
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