Arvidsjaur (Schweden), 22. Januar 2014
Irritiert steht das Häufchen deutscher Auto-Journalisten am Arvidsjaur Flygplats und guckt auf ein gelbes Schild, das erklärt, wo man sein Jagdgewehr zurückerhält. Wo sind wir hier gelandet, frage ich mich. Muss man sich hier gegen Eisbären verteidigen? Aber dann drehe ich mich um und sehe Vertrautes: Werbung von Bosch, Stände mit den Logos von Audi, BMW, Mercedes-AMG und VW. Das ist auch schon fast alles an diesem winzigen Flugplatz. Doch der schwedische Ort nahe am Polarkreis kann stolz auf den Airport sein, denn Arvidsjaur zählt nur ein paar Tausend Seelen. Die Ortschaft lebt von den deutschen Autoherstellern, die hier mal als Reisebüros fungieren: Zum Beispiel vermittelt VW Touren für Erlebnishungrige, die mit dem Golf R flott über den Eissee Arvidsjaursjön schliddern wollen. Auch wir sind dafür da, wir testen das neue Allradauto.
Bei minus 23 Grad auf dem Eissee
Am nächsten Morgen stehe ich um sieben Uhr früh auf dem Eissee. Die krachende Kälte frisst sich langsam in mich hinein, das Thermometer am Holztipi zeigt minus 23 Grad Celsius. Aber ich habe Glück: Am Vortag sollen es minus 34 Grad gewesen sein. Vor mir stehen rund zwanzig Golf R mit laufendem Motor auf dem Eis, stoßen ihren Rauch in die Dunkelheit aus wie ein Rudel Kettenraucher. Der Golf R kommt später dran, sage ich zu meinem Kollegen und wende mich ein paar Raritäten zu. Zuerst bietet sich ein Golf mit dem Kürzel GTE an. Moment mal: GTE, nicht GTI? Richtig, man soll an den Volkssportler denken, das E steht allerdings für elektrisch. Es handelt sich um die VW-Version des schon bald käuflichen Audi A3 e-tron. Also ein Plug-in-Hybrid. Obwohl das Ding 50 Kilometer weit elektrisch fahren kann und wir heute morgen die Ersten sind, die in das Auto einsteigen, zeigt das Display nur 20 Rest-Kilometer an – klar, die Kälte setzt den Batterien zu.
Plug-in-Golf quer
Beim rein elektrischen Anfahren vermissen wir keine Kraft. Kein Wunder, hier arbeitet eine Elektromaschine mit beeindruckenden 320 Newtonmeter Drehmoment – die müssen die Spikereifen erstmal aufs Eis bringen. Zusammen mit dem 150 PS starken TFSI-Motor ergibt sich eine Systemleistung von 204 PS, sodass der Modellname zurecht an den GTI erinnert. Und so schliddere ich schon nach wenigen Minuten mit dem Auto über das Blankeis, als säße ich in einem Rallyeauto. Aber das ist so gewollt. Schließlich hat Audi-Entwicklungsvorstand Ulrich Hackenberg erst am Vorabend auf der Veranstaltung einen VW-Sprecher korrigiert: Auch die Hybridmodelle des Konzerns sind sportlich, meinte Hackenberg, nicht nur der Golf R! So protestiert der VW-Ingenieur auf der Rückbank mit keinem Wort gegen die ruppige Gangart. Auf meiner nur wenige Minuten dauernden Spritztour – mehr quer als längs gefahren – gewinne ich zwar keine Erkenntnisse zum Hybridsystem, aber ich schließe schon mal Bekanntschaft mit dem Eis.
Polo und Beetle mit Allradantrieb
Nächster Kandidat ist ein Polo mit Allradantrieb und 250 PS. Im Modellprogramm aus Wolfsburg sucht man danach vergeblich, auch der kürzlich ausgelaufene Polo WRC hatte nur Frontantrieb. Es handelt sich um eine Vorstudie zu VWs Rallye-Auto. 250 PS in einem Kleinwagen, meine Neugier ist geweckt, und so mache ich mich gleich damit auf den Weg. Die Leistung ist allerdings nicht zu spüren, denn hier legt das Eis die Gangart fest und nicht die Motorleistung. Schon gar nicht in der Kurve, wenn das ESP an ist! Hier wird aus dem Leistungsorkan, den ich mir versprochen habe, ein leises Lüftchen. Das Sicherheitssystem regelt den Wagen barsch herunter, und am Ausgang der ersten Kurve bleibe ich trotz Vollgas fast stehen. Besser geht es mit einer weiteren Seltenheit: einem Beetle Cabrio mit Allradantrieb. Hier erkundige ich mich gar nicht mehr nach der Motorleistung, denn die spielt auf dem Eis keine Rolle. Das Driften aber geht damit viel besser. Die Gewichtsverteilung ist eine andere, jedenfalls “kommt” das Heck in der Kurve schon viel früher.
Driften, mal nicht mit Hinterradantrieb
Nach einer Einweisung im VW-Tipi ist dann der Golf R dran. Jetzt, um neun Uhr morgens, ist auch hier, nahe am Polarkreis, der Tag angebrochen. Die technischen Einzelheiten habe ich mir am Vorabend vom Leiter der Gesamtfahrzeugentwicklung der Volkswagen R GmbH, Guido Sever, erklären lassen: Unter der Haube arbeitet der Zweiliter-TSI aus dem Golf GTI, den VW allerdings mit einem größeren Turbolader, einem anderen Zylinderkopf und noch ein paar Finessen auf 300 PS gebracht hat. Mit diesem Aggregat wird ein Allradantrieb kombiniert: Haldex-Kupplung, fünfte Generation, hat mir Sever stolz gesagt. Das bedeutet primär, dass die Leistung bei plötzlich auftretendem Schlupf besonders schnell umverteilt wird. Jetzt ist es aber wichtiger zu wissen, wie man damit driftet. Schließlich weiß jeder kleine Bub, dass man zum Driften einen Hinterradantrieb braucht, oder? Wie soll das mit einem Fronttriebler klappen, der per Haldex-Kupplung zum 4motion umgerüstet wurde?
Beim Beschleunigen fließt die Kraft nach hinten
Nun, bei konstantem Tempo auf der Autobahn fährt der Golf R tatsächlich fast ausschließlich mit Frontantrieb. Nur so ist ein Normverbrauch von 7,1 Liter – allerdings Super Plus – möglich. Beim Beschleunigen aber wird die Kraft nach hinten geleitet. Unter μ-Sprung-Bedingungen – Vorderräder auf Eis, Hinterräder aus Asphalt – gelangt sogar das gesamte Drehmoment an die Hinterachse. So kann man den stärksten Serien-Golf theoretisch per Gaspedal den Frontantrieb austreiben: Gas weg heißt Frontantrieb, Gas geben, und man fährt mit Hinterradantrieb. Aber wird das auch auf dem Eis gelingen?
Stufenweises Desaktivieren des ESP
Mein zuerst fahrender Kollege lässt das ESP des Golf R anfangs eingeschaltet und deaktiviert es dann vorsichtig. Beim neuen Golf R geht das schrittweise: Man kann es teilweise deaktivieren und erstmals auch komplett. Als ich mich dann ans Steuer setze, schalte ich das System gleich vollständig ab. Nach meinen Erfahrungen mit dem Polo und dem Beetle reicht es mir. Nicht nochmal möchte ich so rüde ausgebremst werden. Und was, wenn ich den Abflug mache? Nun, es steht ein Touareg bereit, der mich im Fall des Falles wieder herauszieht. Außerdem ist der Schnee an den Kurvenrändern zwar hartgefroren, aber viel kann nicht passieren, hat man mir gesagt. Ich fahre eine 270-Grad-Kurve und soll unter den Argusaugen eines VW-Driving-Experience-Experten versuchen, den Drift über die ganze Kurve zu halten.
Ins Driften kommen: Leicht
Eigenlob stinkt, aber ins Driften zu kommen, gelingt mir auf Anhieb. Das liegt weniger am Können – ich bin kompletter Nordland-Neuling –, als am Auto. Es ist wirklich nicht schwer, die Antriebskraft nach hinten umzulenken. Nur am Kurvenausgang, da hapert es noch. So richtig lange Drifts gelingen mir zunächst nicht. Wenn der am äußeren Bahnrand liegende Schnee immer näher kommt, gehe ich instinktiv vom Gas, und dann ist es vorbei mit dem Drift. Aber gerade dann, wenn man Angst kriegt abzufliegen, muss man Vollgas geben. Ich zwinge mich dazu, und dann klappt es: Das Heck schwingt nach außen, das Auto dreht sich in die Kurve und ich fahre in die richtige Richtung. Nach ein paar Durchgängen schaffe ich es doch tatsächlich, den Drift mehr oder weniger die ganzen 270 Grad lang zu halten. Nun ja, Rallye-Profi Niki Schelle hat kürzlich einen Drift über mehr als 130 Meter hingelegt, sagt mir ein Kollege, und das auf Asphalt.
Auf Eis: Bloß kein DSG!
Was nicht ist, kann noch werden, rede ich mir ein. Als Nächstes begeben wir uns auf eine Kreisbahn mit 100 Meter Durchmesser. Eigentlich müsste es hier, mit konstantem Kurvenradius, doch viel besser gehen, oder? Aber nein, die vor uns fahrenden Kollegen haben das Eis schon mit ihren Reifen poliert, und zwar ungleichmäßig. Mit konstantem Tempo und gleich bleibendem Lenkradeinschlag kann man hier nur Schiffbruch erleiden. Apropos Tempo: Auf dem Eis zeigt der Tacho des Öfteren Werte um die 80 km/h, aber de facto sind wir allenfalls halb so schnell. Wenn die Räder durchdrehen, und das tun sie trotz der Zwei-Millimeter-Spikes an den Reifen, hilft der Temposensor nicht viel. Das ist auch der Grund, warum wir kein DSG-Auto bekommen haben: Auf Eis schaltet bei der automatisch schaltenden Version des Golf R das Getriebe unkontrolliert. Denn das DSG-Getriebe weiß nichts von Eis und Drift und alldem. Stur legt es bei Tempo 80 immer den gleichen Gang ein, vielleicht ist es der fünfte oder sechste. Völlig falsch, driften geht im zweiten Gang am besten. Also ist Handschaltung angesagt.
Allrad als Sicherheitsfeature?
Auf Asphalt, wo jeder normale Mensch außer den Nordmannen fährt, habe ich den Golf R nicht bewegt. Doch ich habe den VW-Ingenieur zu ein paar Dingen des Alltags befragt. Zum Beispiel: Ist Allrad wirklich ein Sicherheitsfeature? Es ist genauso wie beim ABS, meint Guido Sever, es kommt drauf an, wie man die Systeme benutzt. Sucht man mit dem Allradler den Grenzbereich, wird es genauso gefährlich wie mit Frontantrieb. Aber man kann schneller in die Kurve fahren, bevor etwas passiert. Die kurveninneren Räder werden beim Golf R gebremst, sodass Untersteuern vermieden wird. Im XDS+ des Golf R – eine elektronische Differenzialsperre – geschieht dies auch, wenn man das Gas wegnimmt, was in Kurven ja häufig geschieht.
Komfortabler als der Audi S3
Und sonst? Wie sind die Unterschiede zum Audi S3, frage ich Sever. Er hat schließlich den gleichen Motor und auch Allradantrieb. Ziemlich ähnliches Auto, sagt der Experte, aber das Fahrwerk des Audi ist härter. Aus dem Kopf rattert er die Federraten in Newton pro Millimeter Federweg herunter, und sie sind in der Tat nur etwa halb so groß wie beim S3. Mit unseren Spikereifen auf Schnee und Eis kam mir der Golf R denn auch nicht unkomfortabel vor. Er liegt übrigens zwei Zentimeter tiefer als ein normaler Golf. Ein Unterschied zu den schwächeren Verwandten ist auch die Progressivlenkung: Hier nimmt die Übersetzung mit der Stärke des Lenkradeinschlags zu.
Schöner Sound
Über das Beschleunigungsgefühl im Golf R lässt sich anhand von Kolonnenfahrten zwischen Hotel, See und Flughafen nicht urteilen, und schon gar nicht aufgrund der Eisfahrten. Das maximale Drehmoment soll nun schon sieben- oder achthundert U/min früher anliegen als beim alten Golf R, der noch auf der sechsten Modellgeneration basierte und 270 PS mobilisierte. Und 5,1 Sekunden für den Sprint auf Tempo 100 – bei der Schaltversion – sind schon auch ein Wort. Sehr schön, nämlich kernig und sportlich rau, klingt der Motor. Wer es überprüfen will, geht schnurstracks zum Händler und fragt nach einer Probefahrt. Dort wartet der Golf R bereits auf Interessenten, für 38.325 Euro ist er zu haben. Günstiger ist eine Reise mit Volkswagen Driving Experience. Für 2.790 Euro plus Flug erhält man ein verlängertes Wochenende in Arvidsjaur, bei dem man an vier Fahrtagen mit dem Golf R an das korrekte Driften herangeführt wird. Mit Sicherheit eine – wie soll man sagen? – schräge Erfahrung. Und wer Angst vor der Kälte hat, muss sich nur an den Einheimischen orientieren: Bei einem Frühlingseinbruch mit Temperaturen um die minus zehn Grad sieht man sie schon mal in kurzen Hosen zum Einkaufen gehen.
(sl)
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